· 

Filmabend

Proitzer Mühle, 2013. Ein Film soll geschaut werden.

The Grandmaster“ von Wong Kar Wei über Ip Man, den Lehrer von Bruce Lee, Wing Tsun und die Entstehung des Xingyi Bagua. Meister Tian hat den Film im Flieger gesehen und für gut befunden; doch leider war er auf Kantonesisch, was der Meister nur mit Mühe versteht.

Die Zeiten der legendären Proitzer Filmabende sind schon länger vorbei: Abende, die mit einem Vorfilm begannen und bereits während des Abendessens angekündigt wurden. Spätestens zum Hauptfilm – meistens ein Martial-Arts-Film, ein klassischer Eastern oder etwas anderes thematisch Passendes – hatte sich dann regelmäßig ein Grüppchen in dem Zimmer über dem Gastraum eingefunden, um per Beamer und Leinwand (was seinerzeit noch nicht in jedem Haushalt vorhanden war) zumindest mittelgroßes Kino zu schauen.

Wenn einmal kein Film gezeigt wurde, wurden oft auch Gesellschaftsspiele bis spät in die Nacht gespielt: allem voran Tabu und Activity oder was eben sonst gerade da war und Spaß versprach. Doch auch diese Zeiten sind ein bisschen passé; man hat halt andere Dinge im Sinn – abendliches Üben zum Beispiel oder mit Meister Tian eine Runde Tischtennis zu spielen. Oder aber dem abendlichen Tun und Lassen einfach nur zuzuschauen.

Nun könnte man natürlich wehmütig werden und ein wenig rumjammern, dass eben auch in der Proitzer Mühle nichts mehr so ist wie früher. Vielleicht kann man es aber auch als ein gutes Zeichen interpretieren: Möglicherweise haben gemeinsames Filme-Anschauen oder das Gesellschaftsspiel ihre Funktion als gemeinschaftsstiftende Aktivitäten einfach ein Stück weit verloren und sich gewissermaßen selbst überlebt, denn mittlerweile kennt man sich so gut, dass man immer wieder schnell ins Gespräch findet. Und je älter wir werden, desto schneller scheint dann auch das Jahr „zwischen den Mühlen“ zu vergehen, so dass Gesprächsenden fast unmittelbar wieder aufgenommen werden können: „Wie geht’s deinem Bein?“ „Wie laufen deine Kurse?“

 

Jetzt aber soll endlich mal wieder ein Film angeschaut werden. Wobei 'soll' reine Freiwilligkeit bedeutet – niemand wird gezwungen oder muss sich verpflichtet fühlen. Obwohl...

Meister Tian hat durchblicken lassen, dass er den Film gut findet, und da keimt natürlich Neugier auf. Vielleicht kann man sich aus dem Film ja auch noch etwas für das eigene Baguatraining abschauen oder sich zumindest inspirieren lassen. Deshalb ist es wenig überraschend, dass ausnahmslos alle ihr Interesse bekunden.

Einziger Haken: Der Film ist relativ neu und noch nicht auf DVD erschienen; allenfalls als kostenpflichtiges Download ist er erhältlich, und da beginnen die Probleme. Zwar hat Nanni, die Organisatorin und Dolmetscherin, angeboten, den Streamingdienst zu bezahlen, weil es sich ja um ein Gemeinschaftsevent – quasi eine Fortbildung innerhalb des Workshops – handeln wird. Aber mit dem Bezahlen allein ist noch nicht das Hauptproblem gelöst, welches da lautet: Es gibt kaum Netz in der Mühle.

 

Das Telefonieren per Handy erledigt man entweder vor dem Pferdestall, wobei man während des Telefonats tunlichst nicht hin und her gehen sollte;,besser noch: man bewegt sich gar nicht. Oder aber man geht direkt auf die kleine Anhöhe hinter dem Parkplatz, auf der der Empfang zwar stabil, wo es allerdings oft recht zugig und kalt ist.

Auch fürs „Internet-Gucken“ reicht das WLAN nicht, jedenfalls nicht für mehrere Leute gleichzeitig. Da sitzt man zu Beginn allein im Raum und freut sich über volle vier Balken; doch kaum kommt jemand mit dem Laptop dazu, schnurrt das WLAN nach wenigen Minuten auf nurmehr zwei Balken zusammen. Ein bisschen ist es so wie bei „Life of Brian“:

Der beste Empfang?! Im Gastraum: den Flur entlang, letzte Tür; jeder bitte nur einen Balken!“

Macht am Ende aber trotzdem maximal einen Balken bei einer gleichzeitigen Nutzung von höchstens drei Surfern.

 

Ich kann mich an ein Jahr erinnern, da ich für die Proitzer Workshops Geld von einem Sparbuch locker machen musste. Mein üblicher Berater war nicht da, und so war es an seinem Vertreter, die Formalitäten der Sparbuch-Kündigung zu erledigen. Banker mit Kundenkontakt müssen ja auch Smalltalk und Gesprächsführung beherrschen und so zunächst ein Vertrauensverhältnis zum Kunden herstellen, um ihnen später dann geeignete Produkte oder Dienstleistungen verkaufen zu können. Darüber hinaus sind Informationen und Daten – neben dem realen Geld – natürlich eine weitere wichtige Währung. Und wie überall sonst gilt auch hier: Es gibt nichts ohne Gegenleistung, sprich: Information gegen Information. Das hat mein Bankberater ziemlich gut drauf, aber auch ich halte mich wacker. Denn manchmal werfe ich ihm einfach ein paar erfundene Informationen vor die Füße, damit er irgendwas in seine Formulare eintragen kann.

Sehr beliebt in diesem Zusammenhang ist ja die Frage, welche Träume und Wünsche man denn hege, bei deren Erfüllung einem die Bank dann mit einer passenden Leistung finanziell unter die Arme greifen kann. Auf diese Frage muss ich irgendwann einmal „Erwerb und Restaurierung eines Bauwagens“ geantwortet haben, was ich allerdings schon wieder vergessen hatte, bis ich von meinem Bankberater zwei Jahre später gefragt wurde, wie es denn um meinen Bauwagentraum stünde, ob das noch aktuell und – wenn ja – wie denn diesbezüglich der Stand der Dinge sei.

Ich muss ihn seinerzeit mit mehr als zwei Fragezeichen im Gesicht angeschaut haben, bis sich dann doch irgendwann in meinem Hinterkopf die Erinnerung regte. Nun ja. Träume ändern sich, und nicht alle sind käuflich.

Aber nun saß mir ja ein anderer Berater gegenüber, der von meinen Bauwagen-Luftschlössern nichts wusste und sich smalltalkend erkundigte, wohin die Reise denn gehen sollte, für die ich jetzt das Geld bräuchte. Also begann ich, die Sache mit dem Wendland, Wudang und der Proitzer Mühle zu erklären. Den meisten Menschen genügen schon die Stichworte 'Taiji', 'Abgeschiedenheit' und 'drei warme Mahlzeiten am Tag', um sofort Bescheid zu wissen: „Ach wie schön: Taiji, Entspannung, Seele baumeln lassen...!"

Aus diesem Grund habe ich mir angewöhnt, die Dinge von vornherein klarzustellen: „Sechs Stunden Unterricht am Tag plus abendliches Üben. Und keine der üblichen Zerstreuungen, weil: kein Fernsehen, keine Zeitung, kein Internet, keine SMS.“

Während ich also mein Verslein aufsage, schaut der Bankberater kurz vom Bildschirm (auf dem übrigens meine klammen Finanzen offen vor ihm ausgebreitet liegen) hoch, sieht mich kurz mit leicht verhangenem Blick an, um dann leise zu sagen: „Ich beneide Sie...“

 

Ups – wo war ich doch gleich?! Ach ja: das Netz in der Mühle. Oder vielmehr: das fehlende Netz.

Zwischenzeitlich habe ich mit Olaf telefoniert. Wenn man im Tischtennisraum das Fenster öffnet und sich mit dem Handy am Ohr an den Fensterspalt zwängt, kann man sogar an der warmen Heizung telefonieren. Allerdings muss man dafür in Kauf nehmen, dass es in diesem Raum schwer nach Katze müffelt. Jeder Komfort hat halt seinen Preis.

Olaf hat zugesagt, sich den Film auf den Laptop zu laden; allerdings wird er erst zu Beginn des zweiten Workshops in die Mühle kommen. Schade, meint Nanni; es wäre doch viel schöner, wenn wir einen Film über das Bagua auch noch während des Bagua-Workshops schauen könnten.

Da schaltet sich Francine aus Luxemburg ein: Sie hat einen relativ neuen Laptop dabei, der mit dem Datenvolumen eines langen Spielfilms nicht überfordert sein dürfte. Zudem scheint in Jörgs Zimmer das Netz ziemlich gut und darüber hinaus auch recht stabil zu sein, was daran liegen mag, dass das Zimmer in der Nähe des Büros mit dem Router liegt. Diese Kombination klingt erfolgversprechend; und damit auch wirklich nichts schief geht, wird Francine also am späten Abend, wenn niemand mehr einen Balken klaut, mit dem Herunterladen des Films beginnen. Eine Nacht plus der darauffolgende Tag als Zeitpuffer sollten locker für den Download reichen.

 

Am nächsten Morgen schauen wir alle erwartungsvoll Francine an, als sie den Frühstücksraum betritt: „Naaa????? Alles geklappt????“ „Nein,“ sagt Francine, „er hat erst ein Drittel des Films.“

Im Laufe des Tages verschwindet sie mehrfach in Jörgs Zimmer, um den Fortschritt des Downloads zu überprüfen, doch ihre Sätze beginnen sich immer mehr zu ähneln: „Immer noch nicht weiter.“ „Nur ein klein wenig weiter.“

Am Abend bricht sie das Ganze schließlich ab, um einen neuen Versuch zu starten, doch erneut wird der Download durch den Flügelschlag einer Fledermaus oder eine andere unbekannte atmosphärische Widrigkeit verunmöglicht. Drei Anläufe braucht es insgesamt, bis Francine am Morgen des dritten Tages endlich verkünden kann: „Es hat geklappt, der Film läuft fehlerfrei!“ – um nur wenige Stunden später zerknirscht zu vermelden: „Aber nur auf französisch. Wahlweise auch auf spanisch oder englisch. Nur leider nicht auf deutsch. Auch nicht mit deutschen Untertiteln.“ Sogar eine chinesische Fassung sei möglich. Aber wem außer Nanni und Meister Tian würde das nützen?

 

Kleine Notiz am Rande: Niemand, aber auch wirklich niemand von uns hat daran gedacht, dass französische Streamingdienste wahrscheinlich erst einmal nur französische Synchronfassungen im Angebot haben – es sei denn, man sucht explizit nach fremdsprachigen Varianten. Aber darauf ist keiner von uns gekommen; ein Umstand, der natürlich auch als Beleg für Francines fantastische Deutschkenntnisse gewertet werden kann...

Also alles auf Anfang, sprich: Ich erneut zum Telefonat ans gekippte Fenster im Tischtennisraum. Ok. Olaf wird sich den Film auf den Laptop holen, und dann können wir ihn eben erst nächste Woche sehen. Immerhin bleiben ein paar von uns Bagua-Workshoplern ja noch bis zum zweiten Seminar. Aber dennoch schade. Und gleichzeitig nicht zu ändern.

 

Irgendwann ist es dann soweit: Er ist da, der Olaf, nebst Laptop und Film auf selbigem!

Vorhang auf – sozusagen – für „The Grandmaster“!!!

Allerdings und ach: Die Filmversion auf Olafs Laptop bietet folgende Varianten:

  • deutsche Synchronfassung (versteht der Meister nix)

  • chinesischer Originalton (verstehen wir nix).

Wir entscheiden uns also für die Variante „deutsche Synchronfassung mit französischen Untertiteln“, damit die drei Franzosen auch klarkommen. Und der Meister? Nun ja, meint Francine, sie könne ja ihren Laptop auch noch dazu holen: „Dann lassen wir beide Filme parallel laufen; Meister Tian bekommt Kopfhörer und hat so den Originalton, und alle verstehen alles!“ Wunderbar, so wird’s gemacht!!

Kleines Fragezeichen nur: Der Film von Francine ist knapp zehn Minuten länger als der von Olaf?! Ah, wahrscheinlich hat er ein paar Szenen mehr, die aus der deutschen Fassung herausgeschnitten wurden; vielleicht sogar Director's Cut. Sollte aber kein Problem sein – muss der andere Film an den entsprechenden Stellen eben so lange angehalten werden.

Bis sämtliche Technik dann ein- und umgestöpselt und alles mit Strom versorgt ist, herrscht in dem kleinen Raum, wo der Fernseher aufgebaut wurde, emsiges Kommen und Gehen wie im Ameisenhaufen:

Ich hol' mir noch ein Bierchen. Sonst noch jemand?“ - „Au ja, bring mir eins mit!“

Kannst du auch noch Schokolade mitbringen?“ - „Für mich Chips!“ - „Dann muss noch jemand mitkommen und beim Tragen helfen!“

Wartet ihr auf mich? Ich muss mein Bier erst noch wegbringen!“....

Und endlich, endlich kann es losgehen. Olafs und Francines Finger schweben über den Play-Tasten ihrer beider Laptops, und wir zählen den Countdown mit: „3 – 2 – 1 – Start!“

Alle lehnen sich zurück, nippen an Wasser, Wein oder Bierchen, knuspern Chipschen oder kauen Schokolade, schauen gebannt auf den Bildschirm. Also: wir auf den des Fernsehers, während Meister Tian mit Kopfhörern auf den Ohren immer wieder auf Francines Laptop schielt.

Hmmmh“ macht er irgendwann. Irgendetwas passt da nicht. Sollten wir den Anfang dann doch nicht synchron gestartet haben? Oder waren etwa gleich zu Beginn des Films schon zusätzliche Szenen enthalten? Denn schon jetzt hinkt der Film auf Francines Laptop deutlich hinterher.

Nun gut, das kann vorkommen. Gemeinsamer Neustart also ab der nächsten Szene. Nach nur wenigen Minuten erneut ein „Hmmppffhhh...!“ vom Meister. Die Filmversion von Francine hat offensichtlich deshalb zehn Minuten mehr, weil jede einzelne Szene ein paar Sekunden länger ist als in der Version von Olaf. Da kommt bei einem Hundertzwanzigminüter schon was zusammen.

Immerhin hat Meister Tian eine wichtige Schlüsselszene jetzt im zweiten Anlauf verstanden, die er uns mit Nannis Hilfe erklärt. Wobei wir uns schon fragen, was der Meister uns da an Infos zu liefern gedenkt – schließlich haben wir die deutsche Synchronfassung, sollte also kein Problem für uns sein. Für einen derartigen Einwand sind wir jedoch alle miteinander zu höflich, und so lächeln wir oder machen wahlweise überraschte Gesichter. Vielleicht hält uns der Meister aber auch insgeheim für ein wenig verdeppt, wo wir doch so lange mit allen Sprachvarianten rumgeeiert sind – wie sollen wir da einen Film verstehen, der in einer anderen Kultur angesiedelt ist?!

Nach einigem Hin und Her geben wir's jedoch auf und schauen den Film ohne Meister Tian weiter – es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, die babylonische Sprachverwirrung an diesem Abend und mit diesem Film aufzulösen. Schade, aber ebenfalls nicht zu ändern.

 

An dieser Stelle könnte die Geschichte natürlich zu Ende sein. Um damit allenfalls ein einigermaßen lustiger Beitrag für die (bis jetzt noch fiktive) Aufsatzsammlung „Meine schönsten Proitzer-Mühle-Erlebnisse“ zu sein – zum Schmunzeln für alle, die seinerzeit dabei waren und sich dann auf ein „Weißt-du-noch-damals“-Bierchen treffen können; zum Kopfschütteln möglicherweise für alle Unbeteiligten. Aber Pointe? Oder gar tieferer Sinn?! Bisher Fehlanzeige. Und doch...

Das mit der babylonischen Sprachverwirrung kann so nicht stehen bleiben.

Ja, wir sprechen verschiedene Sprachen. Die Gruppe, die regelmäßig oder immer mal wieder in der Proitzer Mühle zusammenkommt, besteht aus vielen Deutschen, einigen Franzosen, Österreichern, Schweizern, Belgiern, einer Luxemburgerin. Und mit David haben wir seit einigen Jahren sogar einen Iren dabei. Auf dessen Anwesenheit sind wir tatsächlich ein wenig stolz.

Selbstredend wird es dadurch im Unterricht ein klein wenig kompliziert: Während Nanni Meister Tian dolmetscht, übersetzt Francine (die neben ihrer Muttersprache auch hervorragend deutsch und spanisch spricht) vom Deutschen ins Französische – zumindest für die Franzosen, die nicht so gut deutsch verstehen. Irgendjemand findet sich meistens auch, der für David dolmetscht. Für die Schweizer und Österreicher ist der Unterricht natürlich weitgehend unproblematisch – wenn die dann allerdings abends untereinander wienerln oder sich auf schwitzerdütsch unterhalten, verstehen alle anderen nur noch Bahnhof. Und doch war genau das eine gute Grundlage für das lustige Liederraten, welches die Schweizer einst an einem Abschlussabend veranstalteten.

 

Das an sich ist ja schon bemerkenswert: Dass nämlich das vermeintlich Trennende, unsere verschiedenen Herkunftssprachen, sich nicht zwingend als Barriere erweisen, sondern sogar gemeinschaftsstiftend wirken können.

Das, was uns alle letztlich miteinander verbindet, wiegt offensichtlich sehr viel mehr als alle Hindernisse und Barrieren. Und die These, dass dies am Taiji liegen mag, scheint mir nicht allzu steil zu sein.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0